Das Missverständnis um die Intersektionalität – und die Konsequenzen daraus
Seit geraumer Zeit stellen wir immer wieder fest, dass das wichtige Konzept der Intersektionalität im Queer-/Liberalfeminismus in einer Art und Weise gebraucht wird, welches es in seinem ursprünglichen Sinn und Intention unbrauchbar macht. Wie so viele feministische Konzepte im Laufe der Zeit „geschrottet“ wurden, so erging es auch diesem.
Ich konnte bisher nie so ganz greifen, was genau da schief gelaufen ist. Bis zu dieser Woche, bei einer Veranstaltung an der Uni Mainz mit der Taz- und Missy Magazin-Autorin Hengameh Yaghoobifarah. Bisher dachte ich nämlich immer, der Fehler in der Rezeption bestünde ausschließlich darin, dass Mehrfachdiskriminierungen von der Kategorie Geschlecht (im Sinne von „sex“, nicht „gender“) abgetrennt und munter aufaddiert würden. Tatsächlich habe ich jetzt verstanden, dass der Dritte Welle Feminismus einem grundlegenden Missverständnis aufgesessen ist, welches mir nun auch einige irritierende politische Aktionen aus diesen Reihen der letzten Jahre erklärt. Aber dazu am Ende mehr.
Ursprung der Intersektionalität
Das Intersektionalitäts-Konzept wird in der Regel der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw zugeschrieben, die im Jahr 1989 den Begriff „Intersektionalität“ prägte. Die Wurzeln dieser wichtigen feministischen Theorie liegen jedoch weit davor. So fragte die ehemalige Sklavin Sojourner Truth bereits im Jahr 1851 „Bin ich denn keine Frau?“ („Ain`t I a woman?“). Sie brachte damit zurecht zum Ausdruck, dass schwarze Frauen nicht nur als Frau, sondern zusätzlich aufgrund von Ethnie doppelt diskriminiert seien und nicht dementsprechend wahrgenommen würden. Ende des 19. Jahrhunderts kämpfte eine Gruppe afro-afrikanischer Frauen um Anna Julia Cooper, Feministinnen wie Mary Church Terrell, Nannie Burroughs und Fannie Barrier Williams um die Anerkennung der Tatsache, dass im Patriarchat schwarze Frauen sowohl sexistisch als auch rassistisch diskriminiert sind und ihre Position in der gesellschaftlichen Hierarchie noch unter der jener Frauen liegt, die keine Diskriminierung aufgrund von Ethnie erfahren müssen. Diese Feministinnen forderten ein, dass ihre spezifischen Lebenslagen und Problematiken in der „Global Sisterhood“ thematisiert und berücksichtigt werden. Ariane Panther hat sich diesen Ursprüngen bereits sehr ausführlich gewidmet.
Dass Hengameh es völlig versäumte in ihrer sehr selektiven Aufzählung der Verfehlungen privilegierter, unsoldidarischer “weißer” Frauen, jene Frauen der ersten und zweiten Welle der Frauenbewegung zu erwähnen, die in vielerlei Hinsicht mit Rollenerwartungen brachen (als Frauen, die Frauen liebten; als Frauen, die prostituiert wurden; als Frauen, die unter den Nazis offen Solidarität mit Jüdinnen zeigten; usw). Dass sie die gegenüeber “weißen” Frauen postulierte “Fehlerfreundlichkeit” selbst sehr plastisch bei einer aus dem Publikum kommenden Kritik gegenüber Angela Davis praktizierte (“Na, man muss sie ja nicht zitieren, wenn es um Israel geht, wenn man sie für Knastkritik heranzieht”): Geschenkt! So funktioniert halt Dogmatismus …
Geschlecht und nicht Ethnie (race) als zentrale Kategorie
Der Groschen der nun bei mir fiel, ist, dass Dritte Welle Feministinnen der Auffassung sind, dass Intersektionalität von der Ethnie als zentraler Unterdrückungskategorie ausgeht und nicht von Geschlecht. Nach Hengamehs Definition stehen „weiße“ Frauen in der Hierarchie über schwarzen Männern und Frauen. Hierher rührt also der Mythos der „privilegierten, heterosexuellen, weißen Frau“. Nach dieser Lesart der gesellschaftlichen Verhältnisse stellen „weiße“ Frauen eine Gefahr für schwarze Männer da.
Dies lässt sich zum Beispiel an von ihr getätigten Äußerungen ablesen, nach denen „weiße“ Frauen , die von Männern einer anderen Ethnie sexuell belästigt oder vergewaltigt würden, durch Anzeigen die Polizei auf diese „loshetzen“ (sic!) würden. Da die Polizei eine rassistische Institution und damit eine unfaire Behandlung der Täter vorprogrammiert sei, sollten betroffene Frauen ihr zufolge jedoch auf solche Anzeigen verzichten. Ist der Täter „weiß“ könne im Übrigen ebenfalls auf eine Anzeige verzichtet werden, denn mit einer Verurteilung sei ja angesichts der niedrigen Verurteilungsquoten eh nicht zu rechnen und Frau erspare sich so auch, dass sie sich nach der Vernehmung noch schlechter fühle als vorher. Das wurde tatsächlich so geäußert. Kein Witz. Warum das Publikum hierbei ruhig und gelassen blieb ist mir bis heute ein Rätsel. Aber das ist ein anderes Thema…
Weiterhin wurde die Kritik historischer afro-afrikanischer Feministinnen so interpretiert, als hätten diese sich dem Grunde nach gegen einen „weißen Feminismus“ gewendet und nicht ihre adäquate Inklusion in die feministische Bewegung gefordert. Besagte Gruppe definiert sich nach diesem Verständnis nach Ethnie und nicht nach Geschlecht.
Feminismus als Kampf von Frauen für Frauen
Ich hab dann noch einmal ein wenig bei den Klassikern der „Zweiten Welle“ nachgeschmökert und wurde bei Catharine MacKinnon fündig, um mir zu erklären wo hier die Schieflage entsteht. Ihren aufschlussreichen Text aus dem Jahr 1991 hierzu haben wir 2017 bereits in Auszügen übersetzt, ich fasse ihn noch einmal in Stichworten zusammen.
- Als die AbolitionistInnen das Wahlrecht in den USA durchsetzten und Frauen jeglicher Coleur davon ausgeschlossen blieben, wurden schwarze Frauen nicht als ethnisch diskriminierte Menschen ausgeschlossen, sondern weil sie geschlechtsdiskriminierte Frauen waren.
- Als die Afro-Amerikanerin Mechelle Vinson sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz als Diskriminierung am Arbeitsplatz durchsetzte, tat sie dies als geschlechtsdiskriminierte Frau und nicht als rassistisch/ ethnisch diskriminierte Schwarze.
- Als die Afro-Amerikanerin Lillian Garland ein Recht auf unbezahlten Urlaub im Falle von Schwangerschaft durchsetzte, tat sie dies als geschlechtsdiskriminierte Frau und nicht als rassistisch/ethnisch diskriminierte Schwarze
Voraussetzung für juristische Abhilfe in geschlechtsrelevanten Themen ist die Identifikation der Praxis gesetzwidriger Behandlungen auf der Tatsache, dass Frauen Frauen sind.
MacKinnon verweist auf die „kollektive, soziale Geschichte der Entmachtung, Ausbeutung und Unterordnung“, die alle Frauen bis in die Gegenwart hinein gemeinsam haben. Eine gemeinsame Geschichte, die empirisch belegbar ist und die kollektiv erfahren werden kann.
MacKinnon erkennt selbstverständlich Diskriminierungen aufgrund von Ethnizität an, diese sind ja kaum von der Hand zu weisen. Interessant findet sie jedoch, dass sowohl Hautfarbe als auch Geschlecht visuelle Zuweisungen sind, die jeweils Unterdrückung und damit Gemeinschaft beinhalten. Dass sich Women of Colour eher der Gemeinschaft der People of Colour in Bezug auf Diskriminierung wiederfinden (wollen) – bewusst oder unbewusst – als in der Gemeinschaft der Frauen (also aller Frauen, inklusive der „weißen“), dass „Menschen mehr Würde darin ausmachen, in einer Gruppe zu sein, die auch Männer beinhaltet“, als in einer Gruppe in der auch „weiße“ Frauen sind, da Frauen im Patriarchat per se minderwertig sind – und ihre Unterdrückung gesellschaftlich seltener anerkannt wird, als eine Unterdrückung, die auch Männer betrifft. Niemand will einfach „nur Frau“ sein.
MacKinnon kommt zu dem Schluss, dass feministische Theorie in der ein oder anderen Weise alle Frauen umfassen muss. Die genannten Gesetzesänderungen konnten nur deshalb durchgesetzt werden, weil die Frauen, die sie durchsetzten, sich als Frauen diskriminiert fühlten und dies bei Gericht geltend machten.
„Das bedeutet nicht, dass ihre Ethnie irrelevant wäre und es bedeutet auch nicht, dass ihre Verletzungen außerhalb des rassistischen Kontextes verstanden werden können. Es bedeutet vielmehr, dass „Geschlecht“ sich aus den Erfahrungen aller Frauen ergibt, inklusive der ihren. […] Es bedeutet, dass jede Frau, auf ihre Weise, alle Frauen ist.“
Oder in den Worten von Audre Lorde:
„Schwarze Frauen sprechen als Frauen, weil wir Frauen sind.“
Das Konstrukt der „weißen“ Frau
Verstanden habe ich bei der erneuten Lektüre von MacKinnon auch, dass das Resultat der Zentrierung von Ethnizität im Intersektionalitäts-Verständnis, eben jenes sich selbst Kleinmachen „weißer“ Frauen ist, was wir allenthalben erleben.
Die „weiße“ Frau ist diesem Verständnis nach ökonomisch privilegiert, wird nicht ausgebeutet, schaut auf PoC herab, beschuldigt schwarze Männer sie vergewaltigt zu haben, während sie gleichzeitig über Sex mit ihnen fantasiert.
„Und als Krönung besitzt sie die Unverfrorenheit […] zu denken, dass sie befreit werden muss.“
Selbstverständlich wissen wir eigentlich alle, dass dies nicht stimmt. Wir wissen, dass es egal ist, wie „weiß“ oder „ökonomisch privilegiert“ wir sind. Dass wir in gleichem Ausmaß Gewalt durch Männer erfahren usw. usw. Wenn MacKinnon auf den offensichtlichen Rassismus in der Pornographie verweist, dann negiert sie die Diskriminierung aufgrund von Ethnizität eben nicht, sondern weist daraufhin, dass das was in der Pornographie den vermeintlich privilegiertesten Frauen, den „weißen“ Frauen, angetan wird, zeigt, was allen Frauen angetan werden kann: Und das reicht bereits von Sadismus/Masochismus bis hin zu Snuff.
Wichtig ist, MacKinnons Feststellung:
„Dies alles soll nicht heißen, dass es so etwas wie Privilegien aufgrund der Hautfarbe nicht geben würde, sondern eher, dass jene Privilegien “weiße” Frauen niemals vor der Brutalität und der Frauenverachtung der Männer, zumeist „weißen“ Männern bewahrt haben. […] In anderen Worten: Den „weißen Mädchen“ in dieser Theorie geht in der Realität der “weißen” Frauen und der Praxis der männlichen Vorherrschaft ziemlich viel ab.“ Nicht nur wird durch diese Auffassung die soziale Lage der „weißen“ Frau trivialisiert, sondern es wird im Grunde auch postuliert, dass es eigentlich gar keine Frauenunterdrückung gibt. […] Ungleich zu anderen Frauen teilt die “weiße” Frau, die nicht arm oder aus der ArbeiterInnenklasse ist, oder lesbisch, oder jüdisch, oder mit Behinderung, oder alt oder jung, ihre Unterdrückung nicht mit einem Mann. Das macht ihren Zustand in keinster Weise maßgeblicher für die Definition von Frau, als die Situation irgendeiner anderen Frau. Ihre Unterdrückung jedoch zu trivialisieren, weil es nicht potentiell rassistisch oder klassenbasiert oder heterosexistisch oder antisemitisch ist, definiert die Bedeutung von „anti-Frau“ mit einer besonderen Klarheit. Die Vorstellung, Konstruktion und Behandlung der “weißen” Frau wird zu einem sehr sensitiven Indikator für das Maß in dem Frauen, als solche, verachtet werden.“
Konsequenzen für den zeitgenössischen Feminismus
Ich kann verstehen, dass das Benennen der Ethnizität von Tätern bei der Gewalt gegen Frauen, von Feministinnen als äußerst unangenehm empfunden wird. Ich teile dieses Unbehagen, weil jede von uns weiß, dass jede einzelne Tat von rechts sofort instrumentalisiert wird – aus rassistischer und nicht feministischer Motivation heraus.
Es ist richtig, dass Frauen Gewalt zumeist in ihrem Nahumfeld erfahren und die Ethnizität der Männer bei den Tätern kaum eine Rolle spielt. Es gibt empirisch hierbei kaum nennenswerte Unterschiede. Was wir jedoch immer wieder beobachten ist doch, dass Gewalt durch „die anderen“ in der Regel gerne entweder durch die Gewalt „der einen“ relativiert wird. Oder dass in einem Abwehrreflex betont wird, dass ja „die einen/anderen“ auch xyz… Zu erinnern ist in diesem Kontext an unseren Appell als Reaktion auf die Initiative #ausnahmslos.
Die Intention ist nachvollziehbar: Kein Wasser auf die Mühlen der Rechten. Nicht nur jedoch, dass meines Erachtens so genau das Gegenteil von dem erreicht wird was eigentlich intendiert ist. Nein, es bedeutet vor allem eine Verkennung der zentralen Diskriminierung im Patriarchat: Der nach Geschlecht. Es bedeutet nicht nur eine Entsolidarisierung mit (de facto allen) Frauen, sondern eine Verkennung der gesellschaftlichen Hierarchien.
Der schmerzhafteste Satz , den ich in den letzten Jahren von einer langjährigen Mitstreiterin hören musste, lautete „Du hast ja Recht, aber da draußen brennt es. Es brennen Flüchtlingsunterkünfte, der Rassismus wächst“. In mir schrie es: „Verdammt noch mal, für uns als Frauen brennt es jeden verdammten Tag!“. Nie wurde ich so deutlich auf meinen unteren Platz in der Gesellschaftshierarchie zurechtgewiesen. Ich bin mir sicher, der Mitstreiterin war es nicht bewusst. Ich habe mich jedoch in diesem Moment als Frau minderwertig und verraten gefühlt.
Angesichts dessen frage ich mich, wie es dann erst muslimischen Frauen gehen muss, die dem Kopftuch kritisch gegenüberstehen (oder wie im Iran unter Gefährdung ihres Lebens für eine Befreiung davon kämpfen) und sich (wie jüngst in Frankfurt bei der zeitgleich zu der von Hengameh stattfindenden Veranstaltung) selbst als ethnisch diskriminierte Frauen einen Rassismus-Vorwurf einhandeln…